ANKÜNDIGUNGEN

Die Alevi Enzyklopädie – Workshop der Pirs und Anas erfolgreich abgeschlossen

Die Wegbegleiter erklären das Alevitentum

Der Workshop „Pirs–Anas“ der Alevi Enzyklopädie fand am 10.–11. Mai 2025 in der Rıza-Şehri-Akademie in Dortmund statt.

Die religiösen Autoritäten – Pirs, Anas und Dedes – die die mündliche Tradition des Alevitentums bis heute bewahrt haben, kamen im Rahmen des Workshops „Pirs–Anas“ am 10.–11. Mai 2025 in der Rıza-Şehri-Akademie zusammen.

Der Workshop wurde im Rahmen des Projekts Alevi Enzyklopädie organisiert, das darauf abzielt, die historische Kontinuität des alevitischen Glaubens sowohl durch mündliche Kultur als auch mit digitalen Mitteln zu dokumentieren.

Die teilnehmenden Pirs und Anas vermittelten mit ihren eigenen Worten die grundlegenden Begriffe, Rituale, gesellschaftlichen Werte und Formen des kollektiven Gedächtnisses der alevitischen Glaubensstrukturen.

Diese mündlichen Überlieferungen werden sowohl in schriftlicher Form aufbereitet als auch durch Videoaufnahmen dokumentiert und anschließend in die digitale Enzyklopädie-Plattform integriert.

Eröffnung des Workshops: Die Schnittstelle von Erinnerung, Sır (Geheimnis) und Widerstand

Demir Çelik, der den Workshop im Namen der Rıza-Şehri-Akademie eröffnete, betonte, dass die Veranstaltung nicht nur ein Raum der Wissensvermittlung sei, sondern zugleich ein Erinnerungswiderstand gegen die ent-erinnernden Wirkungen der kapitalistischen Moderne und der nationalstaatlichen Umklammerung.

Mit den Worten: „Um die Begriffe, Theorien und Werte des alevitischen Glaubens im kollektiven Gedächtnis zu verankern, haben wir die technische Infrastruktur der digitalen Plattform Alevi Enzyklopädie fertiggestellt. Heute werden die von euch, unseren Pirs und Anas, mit dem Geheimnis bis in die Gegenwart getragenen Kenntnisse und Beobachtungen einen historischen Beitrag für diese Arbeit leisten“, hob er die Bedeutung des Workshops hervor.

Der mit diesen Worten gezogene Rahmen stellte die Erfahrungsweitergabe der teilnehmenden Pirs und Anas nicht nur auf die Ebene der bloßen Wissensvermittlung, sondern auch als ein Feld epistemischen Kampfes und gesellschaftlichen Widerstands dar.

Alevitentum aus dem Mund der Pirs zu hören – seine Ontologie, seine Moral und seine Beziehung zur Welt, geformt durch die eigenen inneren Dynamiken und jenseits dominanter Narrative – war das entscheidende Element, das diesen Workshop einzigartig machte.

Teilnahme und Sitzungen

Am Workshop nahmen Pirs und Anas aus europäischen Alevi-Organisationen teil, vor allem aus der Föderation der Alevitischen Gemeinden in Deutschland (AABF) und der Föderation der Demokratischen Aleviten (FEDA).

Die zweitägige Veranstaltung wurde in vier zentrale Sitzungen gegliedert:

  1. Vorstellung der Alevi Enzyklopädie:
    In dieser Sitzung, die vom Redaktionsrat des Projekts geleitet wurde, wurden Ziel, technische Struktur und Teilnahmebedingungen der Enzyklopädie erläutert.
  2. Interpretation alevitischer Begriffe:
    Zentrale Glaubenselemente wie Haq/Heq, Hızır/Xızır, Ocak, Mürşit, Pir, Rayber, Cem, İkrar, Musahip, Kirve und Ziyaret wurden von den Pirs und Anas vorgestellt. Dabei erklärten sie, wie diese Begriffe in der Vergangenheit verstanden wurden und wie sie heute neu aktualisiert werden.
  3. Die Rolle der Alevi-Institutionen im Kampf gegen Assimilation und kulturellen Genozid:
    Es wurde diskutiert, wie sich die alevitischen Institutionen den Unterdrückungs-, Transformations- und Unsichtbarmachungsstrategien moderner Staatspolitiken entgegenstellen sollten.
  4. Die Rolle der Enzyklopädie bei der Bewahrung der mündlichen Kultur:
    Pirs und Anas teilten ihre Ansichten zur Fähigkeit der digitalen Enzyklopädie, die mündliche Kultur zu bewahren und zu transformieren, und brachten konkrete Vorschläge ein.

Vorschläge: Religionsbereich und Perspektive der Enzyklopädie

Beim Workshop entwickelten die Pirs und Anas umfassende Vorschläge in zwei Hauptfeldern:

(1) Institutionelle und inhaltliche Veränderungen im Religionsbereich,
(2) Vorschläge zum Umfang und zu den Methoden der Alevi Enzyklopädie.

1. Vorschläge zum Religionsbereich

  • Es soll eine Konferenz der Pirs und Anas organisiert werden; diese Konferenz soll unabhängig von alevitischen Organisationen stattfinden.
  • Alevitische Organisationen sollen ihre Eigenständigkeit bewahren, aber zugleich eine Stärkung durch Zusammenarbeit erreichen.
  • Ein Pir-Divan soll eingerichtet werden; dieses Gremium könnte als religiöse Führung oberhalb aller Institutionen wirken.
  • Cem, Musahiplik, Kirvelik und Bestattungsrituale sollen entsprechend den Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft aktualisiert werden.
  • Die Beziehung zwischen Frauen und Gesellschaft soll neu betrachtet und das Geschlechtergleichgewicht im Glauben gestärkt werden.
  • Gegen den kulturellen Genozid soll ein Prozess der sozialen und religiösen Aufklärung eingeleitet werden.

2. Vorschläge zur Alevi Enzyklopädie

  • Es soll eine Repräsentationskapazität geschaffen werden, in der sich Aleviten aller Strömungen wiederfinden können.
  • Die Enzyklopädie soll mehridentitär und mehrsprachig aufgebaut sein.
  • Sie soll nicht nur schriftliche, sondern auch visuelle, auditive und interaktive Materialien enthalten.
  • Für Kinder bis 14 Jahre sollen altersgerechte Inhalte entwickelt werden.
  • Sie soll Alevi-Heiligtümer (Besuchsorte), Massaker und demografische Karten enthalten.
  • Es sollen offene Daten erstellt werden, die auch in künstliche Intelligenz integriert werden können.
  • Die Beziehungen zwischen Ocaks, Stämmen und Talip-Gemeinschaften sollen dokumentiert werden.
  • Die Geschichte der Aleviten in Wissenschaft, Kunst, Literatur, Politik und Produktion soll sichtbar gemacht werden.
  • Es soll eine Zusammenarbeit mit Institutionen wie der UNESCO und den Vereinten Nationen angestrebt werden.

Zwischen mündlichem Gedächtnis und digitalem Wissen – eine Brücke

Eine der herausragendsten Besonderheiten des Workshops war die direkte Aufzeichnung von Pirs und Anas, die die mündliche Tradition des Alevitentums vermitteln, vor der Kamera.

Diese Aufnahmen werden in Textform übertragen und als dauerhafte Dokumente in der digitalen Plattform veröffentlicht, um künftige Generationen zu erreichen.

So wurde deutlich, dass nicht nur die Talips, sondern auch die religiösen Autoritäten als Subjekte in die Prozesse der schriftlichen Wissensproduktion einbezogen werden – ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Alevi Enzyklopädie.

Dieser Ansatz ist ein wichtiger Schritt für die Demokratisierung der Wissensproduktion und für die Sichtbarmachung einheimischer Epistemologien.

Zwischen kollektivem Gedächtnis und gesellschaftlichem Kampf

Der Workshop „Pirs–Anas“ kann nicht nur als religiöse Vermittlungsarbeit verstanden werden, sondern auch als Praxis kollektiver Erinnerung und Identitätskampf.

In dieser Hinsicht war der Workshop ein greifbares Zeichen für die Fähigkeit der alevitischen Gemeinschaft, mit historischen Traumata umzugehen, sich gegen Assimilation zu wehren und ihr eigenes Wissen zu produzieren.

Jede im Workshop geteilte Erzählung war nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern trug zugleich die Codes der gelebten Erfahrungen einer Generation, einer Gemeinschaft und eines Glaubens.

Damit wurde erneut hervorgehoben, dass die Alevi Enzyklopädie nicht nur eine akademische Quelle, sondern zugleich ein Träger von Glauben und Erinnerung ist.

Schlussfolgerung: Mit der Weisheit der Wegbegleiter die Zukunft gestalten

Der Workshop „Pirs–Anas“, der am 10.–11. Mai stattfand, war ein einzigartiges Treffen mit den lebenden Repräsentanten des alevitischen Glaubens.

Diese Veranstaltung bot nicht nur eine Grundlage zur Bewahrung der mündlichen Tradition, sondern auch zu ihrer erneuten Produktion, Weitergabe und Vermittlung an die jungen Generationen.

Das Projekt Alevi Enzyklopädie verfolgt mit solchen Begegnungen das Ziel, in einer digitalisierten Welt einheimische Wissenssysteme sichtbar zu machen, gemeinsam mit den Trägern des Glaubens zu schreiben und eine Vorstellung von einer Gemeinschaft aufzubauen, die nicht Objekt, sondern Subjekt der Geschichte ist.

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