Die alevitische Gemeinschaft ist eine Glaubensgemeinschaft, die seit Jahrhunderten gegen Unterdrückung und Gewalt kämpft. Die Aleviten waren im Laufe der Geschichte nicht nur physischer, sondern auch epistemischer Gewalt ausgesetzt, sie haben vielfältige Formen von Verfolgung erfahren und zugleich den Kampf geführt, ihren Glauben und ihre Kultur gegen Assimilation zu bewahren. Genau an diesem Punkt tritt die Arbeit an der Alevi-Enzyklopädie als ein historischer Wendepunkt hervor.
Aleviten im Gewaltkreislauf und die Herrschaft über Wissen
Seit den ersten islamischen Staaten in Anatolien bis in die Gegenwart wurde der alevitische Glaube offen abgelehnt und kontinuierlich unterdrückt. Die Aleviten waren einerseits dem Zwang zur religiösen Umwandlung ausgesetzt, andererseits einer ständigen und massiven Gewaltpolitik. Von den späten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Massaker von Dersim 1937–38 setzte sich diese Unterdrückung fort, gewann ab den 1960er Jahren neue Inhalte und Formen und führte wiederum zu Massakern an Aleviten.
Die gewaltsame Vertreibung der Aleviten aus ihren angestammten Siedlungsgebieten durch Pogrome, ihre erzwungene Migration in die Großstädte oder ins Ausland, die Enteignung ihrer Kultstätten und Besitztümer, die Beschlagnahmung ihrer Archive und die Verfälschung schriftlicher Quellen, ebenso wie die Zwangsreligionskurse, mit denen alevitische Kinder einer Assimilation unterworfen wurden, sind nur einige Facetten der vielfältigen Strategien des Vergessens und der Gedächtnislöschung.
Das Massaker von Sivas 1993, die Massaker in Istanbul-Gazi und -Ümraniye 1995 sowie die gewaltsame Räumung von Dersim (1994) führten die alevitische Gemeinschaft in ein unerwartetes „Alevitisches Erwachen“. In kurzer Zeit organisierten sich die Aleviten sowohl in Westeuropa als auch in der gesamten Türkei. Die Cemevleri als alevitische Gebetsstätten sowie die anschließend entstandenen Föderationen und Stiftungen bildeten das Rückgrat dieser Organisationsnetzwerke. Die Cemevleri in der Türkei erhielten Unterstützung von der alevitischen Diaspora in Europa; durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch befruchteten sie einander, machten eine starke alevitische Öffentlichkeit sichtbar und öffneten den Weg für die Politisierung der Aleviten als Akteure in der internationalen Politik.
Die wichtigsten Ergebnisse dieses Prozesses lassen sich auch in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei beobachten. Im Jahr 1999 wurde die Türkei als Beitrittskandidat für die Europäische Union anerkannt und 2005 begannen die Beitrittsverhandlungen. In dieser Phase gewann die alevitische Gemeinschaft eine starke politische Plattform, um ihre Forderungen nach Anerkennung und demokratischen Rechten vorzubringen. Alevitische Institutionen in Europa und der Türkei spielten eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Politiken, die auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen nicht-anerkannter ethnischer und religiöser Minderheiten in der Türkei abzielten, und zogen dadurch verstärkt internationale politische und akademische Aufmerksamkeit auf sich.
Die Notwendigkeit der Alevi-Enzyklopädie
Die alevitische Gemeinschaft sieht sich in ihrem Kampf um demokratische Rechte nicht nur mit Hindernissen wie Unterdrückung, Einschüchterung, erzwungener Repression und Strafverfolgung konfrontiert, sondern heute auch mit systematischen Politikstrategien der Transformation und Manipulation durch die AKP. Insbesondere im Rahmen der sogenannten „Öffnungsprozesse“ wurde mit der Einrichtung von „Alevi-Bektaşi-Forschungszentren“ an verschiedenen Universitäten eine bewusste und systematische Erosion des Wissens angestrebt. Es ist klar zu beobachten, dass der Aufbau eines von der AKP umrissenen „islamisierten Alevitentums“ ernsthaft angestrebt wird. Schließlich wurde mit der unter dem Kulturministerium eingerichteten „Präsidentschaft für Alevi-Bektaşi-Kultur und Cemevi“ versucht, Cemevleri und andere alevitische Institutionen ins Visier zu nehmen und ihre sozialen und kulturellen Aktivitäten zu beeinflussen.
In diesem politisch angespannten Prozess können die in den letzten zehn Jahren in der Türkei und in Europa im Rahmen von „Alevi-Akademien“ durchgeführten verschiedenen Initiativen auch als Lösungsversuche betrachtet werden. Mit der Entstehung des Forschungsfeldes Alevitentumsforschung (Alevism Studies) in der internationalen akademischen Gemeinschaft hat sich vor allem durch alevitische Akademiker*innen, aber auch durch weitere Forschende, eine ernstzunehmende internationale Wissenschaftlergeneration herausgebildet. Daher ist es heute von großer Bedeutung, dass dieser Wissensbestand mithilfe wissenschaftlicher Methoden und Instrumente in einem grundlegenden Nachschlagewerk über das Alevitentum aufgearbeitet wird – im Kontext aktueller Bedürfnisse und zukünftiger Erwartungen.
Die Alevi-Enzyklopädie muss als Ausdruck des Willens verstanden werden, dass die alevitische Gemeinschaft sich ihre eigene Geschichte, ihren Glauben, ihre Kultur und ihr Gedächtnis mit ihren eigenen Begriffen und Gefühlen aneignet – und ist in diesem Sinne von großem Wert. Sie ist eine starke Initiative zur Wissensproduktion von innen heraus, gegen die Manipulationen, Vernichtungs- und Umwandlungsversuche von Staaten und externen Akteuren gegenüber dem alevitischen Gedächtnis und Wissen. Weltweit stellt sie sich damit auch in die Tradition indigener und Minderheitengemeinschaften, die seit Jahrhunderten kolonialen und fremdbestimmten Ansätzen ausgesetzt sind, indem sie ihre Beziehungen zur Forschung und zu Forschenden neu gestalten – über das „Recht auf Selbstbestimmung“ und die Teilhabe an der Forschungs-Governance. Dieser Ansatz hat die Diskussionen über die Dekolonisierung der Wissenspolitiken maßgeblich beeinflusst. Dass die Aleviten ihre Kultur mit ihren eigenen Begriffen, Bedeutungs- und Gefühlswelten definieren und an kommende Generationen weitergeben, kann in diesem Sinne als eine historische Entwicklung betrachtet werden.
Die Alevi-Enzyklopädie zielt darauf ab, eine funktionale Wissensplattform zu sein, in der historische und aktuelle Informationen, gefiltert durch die Hände und die Sprache der alevitischen Gemeinschaft, entsprechend den Bedürfnissen der Zeit und Gesellschaft geordnet und weitergegeben werden. Gleichzeitig ist sie eine starke epistemologische Selbstquelle gegen die Manipulationen externer Akteure mit unterschiedlichen Agenden und Plänen über das Alevitentum. Mit ihrer Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Folklore, Geographie, Theologie, Politik und anderen grundlegenden Dimensionen will die Alevi-Enzyklopädie die Realität des Alevitentums von der Vergangenheit über die Gegenwart ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus tragen – und wird eine langfristige Arbeit sein, die mit der alevitischen Gemeinschaft atmet und lebt. Sie eröffnet auch die Möglichkeit, gemeinsam mit den neuen Generationen zu wachsen und neues Wissen zu erschließen.
Darüber hinaus strebt die Initiative der Alevi-Enzyklopädie an, ihre akademisch-intellektuellen Bemühungen durch öffentliche Veranstaltungen wie jährliche Workshops, Konferenzen und Seminare zu verstärken und mit der alevitischen Öffentlichkeit sowie der akademischen Welt zu teilen. Sie kann auch als eine Wissensplattform verstanden werden, die die mehrsprachige und multikulturelle Struktur innerhalb der alevitischen Gemeinschaft berücksichtigt, das gesamte Spektrum des Alevitentums abbilden möchte und bisher marginalisierte alevitische Gemeinschaften in den Vordergrund stellt.
Dieses Projekt, das das Alevitentum als historisches und gesellschaftliches kulturelles Phänomen betrachtet, will eine mehrsprachige Wissensquelle sein, die den einzigartigen Platz des Alevitentums innerhalb der Menschheitskultur verdeutlicht und auf die jeder zurückgreifen kann, der mehr über das Alevitentum erfahren möchte – insbesondere die junge Generation in der europäischen Diaspora. In diesem Sinne beansprucht sie, nicht nur aus von Akademikerinnen verfassten Artikeln zu bestehen, sondern auch ein reiches ethnographisches Archiv zu sein, das Werke und Daten aus erster Hand umfasst, die von führenden Persönlichkeiten, religiösen Autoritäten und Intellektuellen der alevitischen Gemeinschaft aufgezeichnet wurden.